Praxis für Psychotherapie Dr. Phil. Arnim Krüger




Psychotherapie in Ostdeutschland
Geschichte und Geschichten 1945 - 1995

Michael Geyer (Hrsg.)
Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen, Oakville) 2011, EUR 49,95

"In der Walhalla der Konvertiten ..."
oder
"Was gesagt werden muss"
[1]


Vor mir liegt ein fast 1000seitiges Werk, erarbeitet vom Herausgeber, Hauptautor Michael Geyer (Jg. 1943) und von 75 meist aus der ehemaligen DDR stammenden Co-Autoren. Wie ist aus diesem Konvolut von 76 Stimmen zu erkennen, was die "Psychotherapie in Ostdeutschland" ausmachte? Zumal diese 76 Autoren auch Vertreter unterschiedlicher psychotherapeutischer Strömungen, Methoden und Verfahren sind.

Ich entscheide mich, mich dem Ganzen als Zeitzeuge zu nähern, der diesen historischen Prozeß zu einem gewissen (kleinen) Teil miterlebt hat: Psychologiestudium von 1973 bis 1977 in Jena, ab Mitte der 1980er Jahre eigenständige psychotherapeutische Tätigkeit, 1991 bis 1993 (erster) Geschäftsführer der "Deutschen Gesellschaft für analytische Psychotherapie und Tiefenpsychologie e.V." (DGAPT) und ab 1992 niedergelassener Psychotherapeut für die Verfahren tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, analytische Psychotherapie (Psychoanalyse), Bioenergetische Analyse und analytische Körperpsychotherapie.

Die DGAPT war eine 1991 neu gegründete Gesellschaft, die sich u. a. folgende Aufgaben gestellt hatte: "Die in der DDR gewachsenen psychoanalytischen begründeten Methoden zur Anerkennung bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung im System der Richtlinien-Psychotherapie zu bringen; ein gemeinsames Curriculum aus den drei Methoden (Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie, Psychodynamische Einzeltherapie, Katathym-Imaginative Psychotherapie) für die Aus- und Weiterbildung zu erarbeiten" (S. 761).

"Am Wort sollst du sie erkennen ... " - "psychoanalytisch begründet": An dieser Aussage werden wir uns reiben müssen, wenn wir irgendwie die Geschichte der "Psychotherapie in Ostdeutschland" ansatzweise verstehen wollen (Ich werde andere Verfahren wie Gesprächspsychotherapie, Verhaltenstherapie etc. außen vor lassen.). Haben wir es hier mit einem Fakt, einer Verklärung, einer Manipulation, einer Größenphantasie oder einer Abwehr zu tun? Ich selber habe abgeschlossene Ausbildungen in den Verfahren Psychodynamische Einzeltherapie [2] und Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie [3].

Die Psychodynamische Einzeltherapie arbeitet zwar "theoretisch mit den Erkenntnissen der Psychoanalyse ... ", in "der praktischen Umsetzung dieser Erkenntnisse folgt sie aber nicht oder teilweise nicht dem klassischen psychoanalytischen Therapieprocedere, sondern hat" eine eigene Methodik "entwickelt, die - im Vergleich mit der Psychoanalyse - Begrenzungen und Fokussierungen" markiert [4]. Damit ist die Psychodynamische Einzeltherapie sui generis eine tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapiemethode.

Die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie "betont in ihrem Konzept der Gruppe besonders die Verlaufsgestalt, auf die von den Therapeuten direktiv Einfluß genommen wird ... Ein als idealtypisch konzeptualisierter Gruppenverlauf wird in diesem Verfahren aktiv von den Therapeuten strukturiert" [5]. Damit unterscheidet sich die intendierte dynamische Gruppe deutlich von der psychoanalytischen Gruppe, in der der Therapeut "wenig von sich als Person" zeigt und er sich bemüht, "die Gruppe wenig zu strukturieren", "bevorzugt Gemeinsames der Patienten" aufgreift, "die Zuschreibungen der Gruppenmitglieder" annimmt und sie "deutet" [6]. Damit ist also auch die Intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie eine tiefenpsychologisch fundierte bzw. psychodynamische Gruppenpsychotherapiemethode.

Es sind zwei "klare" tiefenpsychologisch fundierte Verfahren (die Katathym-Imaginative Psychotherapie lasse ich hier ebenfalls außen vor), die in ihrer Wertigkeit für sich stehen. Aber Geyer et al. versuchen im dem Buch immer wieder, dem Leser (oder sich selbst?) nahe zu legen, daß diese Verfahren spezifisch psychoanalytisch begründet seien. So gäbe es etwas "Typisches für die Entwicklung auf diesem Feld in der DDR" - nämlich einen "jahrzehntelangen Versuch, den klinisch-empirischen Gehalt der Psychoanalyse von Metatheorie und Gesellschaftstheorie zu befreien. Damit waren wir nicht so weit entfernt von den Abweichlern von der ‚reinen Lehre' ... , also von Ferenczi und Balint, Schultz-Hencke und anderen Neoanalytikern, Boss, Kohut und Kernberg bis hin zu den modernen angloamerikanischen Schulengründern auf dem Gebiet der Kurztherapie (Malan, Bellak, Luborsky, Strupp u. a.), mit denen wir uns vorrangig beschäftigten" (S. 479).

Aus dieser Inkorporation gleich (fast) aller namhaften Psychotherapeuten nach Freud nehmen wir den wichtigsten für die ehemalige (tiefenpsychologisch orientierte) DDR-Psychotherapie heraus. Der Nestor dieser Psychotherapie, Kurt Höck (1920 - 2008), schrieb einst an seine engste Mitarbeiterin, Helga Hess, : "Halte dich an Schultz-Hencke." (S. 165). Als ich im September 1986 im Institut für Psychotherapie und Neurosenforschung (im "Haus der Gesundheit"; damaliger Ärztlicher Direktor: K. Höck) als wissenschaftlicher Mitarbeiter zu arbeiten begann, legte mir meine vorgesetzte Leiterin, H. Hess, eindringlich nahe, wenn ich überhaupt etwas von Psychotherapie verstehen wolle, dann solle ich Schultz-Hencke [7] lesen.

Wie ist Harald Schultz-Hencke (1892 - 1953) historisch einzuordnen? Schultz-Hencke war Mitglied des "Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie". Dieses Institut wurde im Mai 1936 auf Veranlassung des Reichsärzteführers und des Reichsministeriums des Inneren mit dem offiziellen Ziel gegründet, eine "Neue Deutsche Seelenkunde" zu begründen [8]. Der Leiter dieses Instituts war Matthias H. Göring (1879 - 1945), ein Vetter Hermann Görings.

Hess versucht zu begründen, warum es zur "Übernahme der Anschauungen Schultz-Henckes durch Höck" kam (S. 167 f.). Sie macht vor allem biographische Ähnlichkeiten zwischen beiden Ärzten aus, die Höck zu dieser "Übernahme" motiviert hätten - ein gründlicher, psychologistischer, reduktionistischer Kurzschluß! Will man Geschichte begreifen, dann muß man die in der Geschichte handelnden Personen auch immer als "Personifikationen gesellschaftlicher Verhältnisse" verstehen! Schultz-Hencke entwickelte seine neopsychoanalytischen Vorstellungen primär während der Zeit der Diktatur des Nationalsozialismus. Vielleicht in bester Absicht (?) versuchte er, die Psychoanalyse über die Zeit dieser Diktatur vor den nationalsozialistischen Ideologen zu "retten". Wie sah dieser "Rettungsversuch" aus und welcher Preis wurde epistemologisch dafür gezahlt?

Erstens wurde die psychoanalytische Metatheorie aufgegeben und mit eigenen psychodynamischen Theoriekonstrukten ersetzt: "Antrieb", "Hemmung", "Neurosenstruktur", "Versuchungs- und Versagungssituation" etc. . Dieses psychodynamische Verständnis von Psychotherapie konnte nun nicht mehr in unmittelbaren Zusammenhang mit den "Theorien des Juden Freud" gebracht werden.

Zweitens - Psychoanalyse als kritische Gesellschaftstheorie bzw. Kulturanthropologie wurde gänzlich eliminiert. Mit diesem "Schutz der unpolitischen Attitüde" entfernte sich die Neo-Psychoanalyse von jeglicher Möglichkeit, Gesellschaft kritisch zu hinterfragen.

Drittens führte das zur weiteren Medizinalisierung der Psychoanalyse - Psychoanalyse nur noch als Krankenbehandlung. Denn auch Diktaturen benötigen in einem eingeschränkten Maße Psychotherapie.

In diesem Sinne ist Schultz-Hencke eine solche "Personifikation gesellschaftlicher Verhältnisse". Er trug mit dazu bei, Psychotherapie unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Diktatur möglich zu machen. Und es war gleichzeitig ein Kollaborieren mit der Diktatur.

Es ist nahezu evident, daß unter den Bedingungen der nächsten Diktatur in Deutschland die tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie auf die "Neo-Psychoanalyse" Schultz-Henckes zurückgreifen mußte. So gesehen ist auch Höck eine "Personifikation gesellschaftlicher Verhältnisse" - nur eine Generation später in der SED-Diktatur. Mit Geyer u.a. läßt sich dieser "Rückgriff auf die Neo-Psychoanalyse" nur schwerlich als "fortschrittliche Nutzung der Psychoanalyse" feiern. Handelt es sich doch eher um reduktionistischen Eklektizismus, den man bestenfalls in einem pragmatischen Sinne gutheißen kann, wenn man ein primär psychodynamisches Verständnis von Psychotherapie hat.

Halten wir für ein erstes Zwischenresümee fest: Es gab in der DDR keine "psychoanalytisch begründeten" Therapieverfahren, sie waren - wenn dann - tiefenpsychologisch und psychodynamisch orientiert.

Warum ist es den Protagonisten der DDR-Psychotherapie nun so wichtig, als "schon immer" eingeschworene (Undercover-) Psychoanalytiker wahrgenommen werden zu wollen? Viele dieser Protagonisten waren im DDR-Gesundheitswesen in leitenden Funktionen tätig, sie waren Chefärzte und -ärztinnen in psychotherapeutischen Kliniken oder leitende Psychologen in psychotherapeutischen Abteilungen und Ambulanzen. In diesen Funktionen waren sie auch systemtragend. Geyer selbst war außerdem jahrelang (1976 - 2004) Vorstandsmitglied bzw. Vorsitzender der "Gesellschaft für Ärztliche Psychotherapie der DDR" (später: "Gesellschaft für Psychotherapie, Psychosomatische Medizin und Medizinische Psychologie" e. V.). Diese 1960 gegründete, führende Gesellschaft der DDR-Psychotherapie hatte natürlich die Aufgabe, die Psychotherapie innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse der DDR zu "entwickeln" und zu kontrollieren (bzw. "gleichzuschalten", um mit Günter Grass zu sprechen).

Bei Geyer nun liest sich das anders: "Betrachtet man diese Entwicklung ... , dass eine Gruppierung ... entstanden war (jene Protagonisten, die sich auch als "Erfurter Selbsterfahrungsgruppe" trafen, A. K.), die offizielle Institutionen der Medizin und Psychotherapie unterwanderte und schließlich übernahm ... . Das Verhandeln und Taktieren mit den Mächtigen gehörte auch dazu.
Dieses Thema unseres Marsches durch die Institutionen hat uns ... sehr beschäftigt" (S. 211 f.).

Und er erkühnt sich: "Damals jedenfalls war es durchaus ... ernst gemeint, wenn ich im Kreise zuverlässiger Freunde behauptete, mit der Verbreitung unserer Art von Psychotherapieverständnis würden ‚befreite Zonen' im Sinne Che Guevaras geschaffen" (S. 213). Oh, das tut richtig weh! Jene Protagonisten - nun nicht nur in der Attitüde der 68er, sondern auch in der Pose der "Psychotherapie"-Guerilla! Man wundert sich wie diese "Guerilleros" dann doch in der DDR Professoren und Chefärzte wurden. Die "Stasi", die da offensichtlich nicht "aufgepaßt" hat, war vermutlich doch nur eine Gurkentruppe von Idioten.

Aber etwas ernster - vor über 20 Jahren zur "Wende" standen jene Protagonisten im Zenit ihrer beruflichen Karrieren. Nach der "Wende" wurden die meisten DDR-Eliten "abgewickelt", "wegevaluiert" oder ersetzt durch "West-Eliten" (Eliten aus Westdeutschland). Nur bei der Psychotherapieelite der DDR passierte das nicht. Einige, die für die "Stasi" gearbeitet hatten, setzten sich eigeninitiativ meist rasch in den Westen ab und arbeiten dort heute als niedergelassene Psychiater und Nervenärzte. Die verbleibende Psychotherapieelite der DDR begann, das Bild der "systemkritischen und oppositionellen Psychotherapeuten" in der DDR zu entwerfen: "Wir waren schon immer dagegen ... ". Bestimmte Psychotherapeuten setzten sich sogar an die Spitze der Bewegung, die vergangene DDR-Gesellschaft kritisch zu analysieren. [9]

Aber da kaum ein Psychotherapeut aktiv an den realen Umbruchprozessen der Vorbereitung der "Wende" und der "Wende" selbst beteiligt war, galt es, das "schon immer vorhandene" Systemkritische und vermeintlich Oppositionelle inhaltlich zu füllen. Was lag also näher - im Sinne von "Schuster bleib' bei deinen Leisten" - , das Systemkritische und Oppositionelle vom Fach her selbst zu begründen. So wurde die bisherige tiefenpsychologisch und psychodynamisch orientierte Arbeitsweise umdeklariert in "psychoanalytisch begründet" bzw. in "psychoanalytisch" selbst. Der Coup ist geglückt! Galt doch die Psychoanalyse in der offiziellen DDR als Inbegriff einer "bürgerlichen Wissenschaft", die mit einem marxistisch-leninistischen Weltbild nicht zu vereinen sei. Durch die "eigentlich schon immer" getätigte Anwendung eben dieser "bürgerlichen Wissenschaft" war man dann per se systemkritisch und oppositionell gewesen. Die Träger der strukturellen Gewalt des westdeutschen Staates mußten sich in diesen Coup dareinfügen. Die psychotherapeutischen Chefärzte in Ostdeutschland blieben Chefärzte, die Vorsitzenden von psychotherapeutischen Vereinen blieben Vorsitzende ... .

Mit den "westdeutschen Weihen" wurden jene Protagonisten dann zu Lehranalytikern, Supervisoren und Dozenten an den ostdeutschen Ausbildungsinstituten für Psychoanalyse. Der Volksmund sagt: "Die Orthodoxen und die Konvertiten sind die Schlimmsten ... ". Und es hatte schon etwas makaber Komisches, wenn wir Anfang der 1990er Jahre während meiner psychoanalytischen Ausbildungszeit im Kreis saßen und uns Freud im Original gegenseitig vorzulesen hatten, angeleitet von den neu berufenen ostdeutschen Lehranalytikern. Wem da auch der Vergleich mit einer "trockenen" Bibelstunde aus seiner Kindheit und Jugend hochkommt, der versteht vielleicht, welche Atmosphäre des Konvertitentums damals herrschte.

Mit dem Buch von Geyer haben sich nun jene Protagonisten ihre "Walhalla" geschaffen ("Geschichte und Geschichten 1945 - 1995"). Die Walhalla ist nicht nur die (Ruhmes-) Halle Odins, des obersten Gottes, sondern auch der Aufenthaltsort der im Kampf gefallenen Krieger. Die Psychotherapie Ostdeutschlands ist längst tot, sie lebt nur in Spuren in jenen Psychotherapeuten fort, die ihre berufliche Sozialisation in der DDR vollzogen haben. Eine neue und nächste Generation von Psychotherapeuten ist bereits in der gesellschaftlichen und psychotherapeutischen Realität der Bundesrepublik Deutschland angekommen - mit allen Vor- und Nachteilen.

Ist dieses Buch nun zum Lesen zu empfehlen? Ja unbedingt, vor allem jenen psychotherapeutischen Kolleginnen und Kollegen, die in ihrer Biographie selbst mit der DDR-Wirklichkeit konfrontiert waren. Dieses Buch provoziert zur persönlichen Stellungnahme: War es so oder war es nicht so? Wie war es wirklich? Und wo und wie bin ich da verortet gewesen?


Dipl.-Psych. Dr. phil. Arnim H. Krüger

 
 
 
ANMERKUNGEN
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[1]
Anspielung auf ein Gedicht von Günter Grass; vgl. Berliner Zeitung vom 5. / 6. April 2012, S. 5
[2]
Maaz, H.-J. (1997). Psychodynamische Einzeltherapie. Lengerich: Pabst
[3]
Seidler, C., Misselwitz, I. (Hg.) (2001). Die intendierte Dynamische Gruppenpsychotherapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
[4]
Reimer, C., Rüger, U. (2000). Psychodynamische Psychotherapien. Lehrbuch der tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapien. Berlin, Heidelberg, New York: Springer. S. 25
[5]
ebenda, a. a. O., S. 139
[6]
ebenda, a. a. O., S. 129
[7]
Schultz-Hencke, H. (1982). Der gehemmte Mensch. Entwurf eines Lehrbuches der Neo-Psychoanalyse. Stuttgart, New York: Georg Thieme
Schultz-Hencke, H. (1985). Lehrbuch der analytischen Psychotherapie. Stuttgart, New York: Georg Thieme

[8]
vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Harald_Schultz-Henkcke
[9]
vgl. Maaz, H.-J. (1990). Gefühlsstau. Berlin: Argon
 
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